Das große Bild nicht aus den Augen verlieren - ein vom EXC geführtes Interview mit Tim Bunke
Ethnologe Tim Bunke setzte sich in seinem Promotionsprojekt mit der Menschenhandelsgesetzgebung in Sambia auseinander. Kurz nachdem er seine Dissertation eingereicht hatte, trat er eine Stelle beim Weltfriedensdienst an, wo er zunächst in der Zentrale in Berlin geschult und dann nach Kenia abgesandt wurde.
Worüber forschten Sie in Ihrer Dissertation?
Mich faszinierte die Frage, was passiert, wenn westliche UN-Konzepte, wie sie beispielsweise über Menschenhandel diskutiert werden, in Länder des globalen Südens eingeführt werden: Was geschieht, wenn weltpolitische Vorstellungen plötzlich vor Ort umgesetzt werden sollen? Menschenhandel diente mir als Beispiel, doch das eigentliche Thema waren globale Verbindungen.
Inwiefern hat Sie das Thema motiviert, sich als Entwicklungshelfer beim Weltfriedensdienst zu bewerben?
Meiner Meinung nach wird über globale Vernetzung noch viel zu wenig nachgedacht: Wie wir uns hier in Deutschland verhalten, wirkt sich weltweit aus, auch auf das subsaharische Afrika. Diesem Wechselspiel wollte ich nachgehen, welche Konsequenzen gibt es und woher rühren sie? Viele Konflikte, die ich aktuell in Kenia erlebe, haben ihre Wurzeln noch in der Kolonialzeit. Zum Beispiel lassen sich die in Kenia weit verbreiteten Landkonflikte zwischen ethnischen Gruppen auf Enteignungen und Umsiedelungen unter britischer Kolonialherrschaft zurückführen. Auch die Bevorzugung gewisser ethnischer Gruppen in der Kolonialzeit führt zum Teil bis heute dazu, dass bestimmte politische Konflikte immer wieder auftreten.
Gerade nach meiner Promotion hatte ich den Wunsch, nicht nur theoretisch etwas beizutragen, sondern mich auch praktisch gegen die Missstände und Ungleichheiten auf der Welt einzusetzen. Und da ich für die Dissertation insgesamt etwa zwei Jahre lang Feldforschung in Afrika betrieben hatte, bot es sich an, eine dort basierte Stelle zu suchen.
Warum gerade beim Weltfriedensdienst?
Der Weltfriedensdienst thematisiert diese Nord-Süd-Verbindungen, die auch in meiner Dissertation eine Rolle spielen, ganz stark. Der Zivile Friedensdienst ist ein Programm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). In diesem Rahmen ist der Weltfriedensdienst eine von acht anerkannten Entsende-Organisationen, die Friedensfachkräfte zur Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen in Länder des globalen Südens senden. Ziel der Projekte ist die Sicherung von Frieden und Menschenrechten, beim Weltfriedensdienst kommt – und das ist besonders – die Lösung von Ressourcenkonflikten vor Ort hinzu.
In welchem Projekt sind Sie eingesetzt?
Ich bin als Berater einer Organisation in Kenia zugeordnet, die Isiolo Peace Link heißt. Das ist eine kleine Organisation in Isiolo, einem Ort im Norden Kenias, in dem ich auch arbeite. Gemäß seiner Bewilligung durch das BMZ hat das Projekt drei Schwerpunkte: erstens die Bearbeitung von ethnischen Konflikten mit einem besonderen Fokus auf Ressourcenkonflikten und zweitens die Stärkung von alternative dispute resolution mechanisms, kurz ADR. Das sind zum Beispiel Ältestenräte und Friedenskomitees, also nicht-staatliche Mediationsinstrumente, an die formale staatliche Gerichte die Schlichtung von Disputen oder Konflikten auslagern können. Die neue Verfassung Kenias aus dem Jahr 2014 enthält ein großes Dezentralisierungsprogramm und erkennt solche alternative dispute resolution mechanisms an. Der dritte Schwerpunkt ist die Stärkung von sozio-ökonomischen Rechten im Zusammenhang mit Infrastrukturprojekten.
Worum geht es hierbei?
Kenia ist geographisch zweigeteilt in die südlichen Highlands, die sehr fruchtbar sind und ein gemäßigtes Klima aufweisen, und den ariden, trockenen Norden. Die nordöstlichen zwei Drittel der Landmasse Kenias – Richtung Somalia, Äthiopien und Südsudan – gehen immer mehr in Wüste über und wurden über Jahrzehnte, auch in der Kolonialzeit schon, als ‚Puffer’ zu Äthiopien vernachlässigt. Inzwischen gibt es ein riesiges, millionenschweres Investitionsprogramm in Kenia, die sogenannte Kenya Vision 2030, in deren Rahmen unter anderem eine Eisenbahn von Lamu an der ostafrikanischen Küste bis in den Südsudan beziehungsweise nach Äthiopien gebaut werden soll.
Man muss sich das einmal vorstellen: Bis vor drei Jahren führte keine Teerstraße von Isiolo zur äthiopischen Grenze. Die 500 Kilometer ist man quer durch die Wüste gefahren und bis vor ein paar Jahren oft mit Polizei-Eskorte im Konvoi, weil es sich um bandit country handelte. Jetzt gibt es einen Highway; auch eine Pipeline wird gebaut. Und ein großer Flughafen in Isiolo, ich glaube einer der größten in Kenia, ist schon fertiggestellt.
Rund um Isiolo ist es jedoch noch ziemlich „wild“, da gibt es viele Nationalparks und game reserves, was die dort lebenden Leute auch nicht unkritisch sehen, weil sie als Hirten dieses Land nicht mehr für ihre Herden nutzen können. In Isiolos Umgebung soll ein Touristen-Hotspot, eine sogenannte ressort city entstehen, also eine Retortenstadt für Touristen ähnlich wie Sun City in Südafrika.
Was daran ist problematisch?
Lamu Port Southern Sudan-Ethiopia Transport, kurz LAPSSET, Corridor heißt dieses Großprogramm, das Eisenbahn, Highway und Pipeline umfasst und mit enormen Investitionen verbunden ist. Hier wachsen die Spannungen um Landbesitz und -nutzung, weil durch diese großen Investitionen viele Menschen enteignet oder Opfer von Spekulanten geworden sind.
Dies hängt auch mit der fortschreitenden Dezentralisierung zusammen. Es gibt Ausschüsse, die land commissions, die eigentlich in den Bezirken eingesetzt sind, um vor Ort statt von Nairobi aus Urkunden über Landbesitz auszustellen. In Nairobi wird das trotzdem noch gemacht, was natürlich zu Chaos und Konflikten führt. Teilweise gehört ein Grundstück am Ende zwei Leuten, in Ausnahmefällen sogar bis zu sieben.
Und welches Ziel verfolgt Ihre Partner-Organisation „Isiolo Peace Link“?
Isiolo Peace Link möchte unter anderem die sozio-ökonomischen Rechte der Menschen dort stärken. Bei den vielen Investitionsprojekten, die gerade in der Region implementiert werden, herrscht große Unsicherheit: ‚Wo wird was gebaut und was bedeutet das für mich als Anwohnerin oder Anwohner?‘ Wir wollen gegen diese Fremdbestimmung protestieren, um zu bewirken, dass diese Dinge in Zusammenarbeit mit den dort lebenden Menschen und nicht von oben herab ohne vorherige Konsultationen bestimmt werden.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der WFD-Partnerorganisation Isiolo Peace Link.
Was ist konkret geplant, um alternative Konfliktlösungen zu finden?
Wir versuchen hier nicht, das Rad neu zu erfinden. Es ist ja nicht so, dass keine sozio-ökonomischen Rechte vorhanden wären – aber ihre rechtliche Einforderung ist schwierig. Gerade im Rahmen von LAPSSET gibt es viele gesetzlich vorgesehene Partizipationsplattformen. Diese werden aber leider nur unregelmäßig angewandt, was wir jetzt einfordern. Außerdem bieten wir spezielle Trainings für die in den betroffenen Gebieten Lebenden an. Für diese Themen, die teils Budgets der nationalen, teils der Bezirks-Regierung betreffen, ist eine Grundkenntnis von Budgetprozessen vorausgesetzt. Momentan steht auch noch die Ausbildung von sogenannten paralegals, quasi Laienjuristen, im Raum.
Im Bereich der alternativen Konfliktlösungsmechanismen können wir auf vielem schon aufbauen. Friedenskomitees, Ältestenräte, Weide- und Wasserkomitees, und so weiter. Diese werden in der Verfassung mittlerweile zwar anerkannt, aber auch hier besteht leider eine Diskrepanz in der Zusammenarbeit zwischen Gerichten und diesen alternativen Organen. Hier gilt es, die Arbeit der alternativen Organe erst einmal unter den unterschiedlichen Akteuren bekanntzumachen und sie logistisch zu unterstützen.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
In Isiolo bin ich quasi als Pionier – also nicht nur als allererster vom Weltfriedensdienst in Kenia, sondern auch allein – tätig. Das heißt, ich musste bei Null anfangen, was bis heute einiges Chaos mit sich bringt. Ich muss meine Papiere in Ordnung bringen – noch immer bemühe ich mich um meine Arbeitserlaubnis! Dazu kommen alle möglichen Behördengänge, die einfach dazugehören, wenn man ins Ausland geht. In den ersten Monaten war ich wochenlang damit beschäftigt, zwei Autos zu kaufen, eins für mich selbst und eins für die Partnerorganisation, und dabei habe ich überhaupt keine Ahnung von Autos.
Momentan lebe ich in Nairobi. Isiolo ist vier Stunden Fahrt davon entfernt, was viel Fahrerei bedeutet. Alle zehn Tage fahre ich nach Isiolo, um mich mit meiner Partnerorganisation zu treffen. Wir arbeiten sehr viel an den Plänen. Ein großer Teil meiner Tätigkeit ist noch Übersetzungsarbeit: sich kennen lernen, eine gegenseitige Sozialisierung, wie machen wir diese Dinge, wie macht ihr diese Dinge, wie können wir einen gemeinsamen Nenner für unsere Zusammenarbeit finden? Außerdem lerne ich Buchhaltung, die ja – weil es sich um staatlich finanzierte Entwicklungszusammenarbeit handelt – den Anforderungen des Bundesrechnungshofs entsprechen muss. Und ich muss Berichte schreiben.
War das also ein harter Übergang von der Theorie in die Praxis?
Ja. Als Akademiker war man schon sehr behütet und das änderte sich mit dieser Stelle. Ich habe zwar keine Entscheidungsgewalt darüber, was wir hier tun oder lassen. Aber dadurch, dass ich eben dieses einzige Bindeglied nach Deutschland bin, habe ich indirekt doch sehr viel Einfluss. Auf der einen Seite ist das eine große und nicht leichte Umstellung von meinem Leben während der Promotion. Auf der anderen Seite finde ich es total schön und faszinierend, dass ich jetzt Dinge selber mache, über die ich davor geforscht und geschrieben habe.
Nehmen wir Menschenhandel als Beispiel. Zunächst ist das ja ein Konzept, ein Begriff, der noch keinen praktischen Inhalt hat. In meiner Dissertation beschrieb ich unter anderem, wie NGOs in Zusammenarbeit mit dem sambischen Staat einen Tatbestand schaffen, einfach dadurch, dass sie Berichte schreiben, weil eben NGOs eine Rechenschaftspflicht haben. Sie kategorisieren also Praktiken, sie kategorisieren die Realität und schaffen damit erst diesen Bestand. Und genau das tue ich jetzt auch – ich sitze genau an diesen Berichten, die ich davor untersucht habe. Das finde ich irgendwie auch sehr amüsant.
Inwiefern helfen Ihnen die Erfahrungen aus der Feldforschung und der Promotion bei Ihrer jetzigen Arbeit?
Dieses kritische Nachdenken über globale Zusammenhänge hat mich durchaus weitergebracht, auch das Hinterfragen eines humanitären Duktus. Ich versuche meine tägliche Arbeit in Kenia weiter zu fassen als eine reine Dienstleistung. Mir ist es wichtig, nicht das große Bild aus den Augen zu verlieren. Auch diese ethnologische Perspektive, Dinge zu hinterfragen oder kritisch hinzusehen, was hinter den Kulissen passiert: Was machen die Leute wirklich, wie wird das umgesetzt?
Und meine Feldforschungserfahrung erleichterte mir die Sozialisation in Kenia, weil es eben nicht der erste längere Auslandsaufenthalt ist. Dieses Spielen auf unterschiedlichen Ebenen habe ich mir damals ganz gut angeeignet, weil ich bei meiner Doktorarbeit sehr viel mit staatlichen Behörden, also mit der Polizei, mit sambischen Ministerien, mit UN-Organisationen zu tun hatte.
Und worauf waren Sie nicht vorbereitet?
Meine Feldforschung hatte mich nach Tansania und Sambia geführt. In meinem Einsatzort in Isiolo in Kenia bewege ich mich aber in einem komplett neuen Zusammenhang, weil ich noch nie in einer islamischen Gesellschaft gelebt habe. Die sehr vielen Finanzzwänge waren mir ebenfalls neu. Es geht leider doch noch sehr viel um Geld, also Gelder in unterschiedlichster Form in allen möglichen Zusammenhängen.
Wo sehen Sie Ihre persönliche Zukunft – in Afrika oder Europa, in der Wissenschaft oder bei Nichtregierungsorganisationen?
Das Projekt läuft zunächst über drei Jahre, wobei zivile Konfliktarbeit auch im BMZ auf eine sehr lange Wirkungszeit ausgelegt ist. Meistens haben Projekte also einen längeren Horizont, jedoch müssen dafür natürlich neue Anträge geschrieben werden. Ich gehe momentan davon aus, dass ich bis Ende 2019 in Kenia bleibe, alles weitere ist offen. Auf jeden Fall will ich neben der Arbeit die Tür zur Wissenschaft nicht schließen. Ich habe im Februar meine Dissertation verteidigt, will sie noch veröffentlichen und will wissenschaftliche Artikel schreiben. Langfristig kann ich mir durchaus vorstellen, meine Arbeit vor Ort mit Konfliktforschung, die ich für ein sehr spannendes Thema halte, zu kombinieren – wenn sich dies vereinbaren lässt.
Der Ethnologe Tim Bunke promovierte im Exzellenzcluster über „Introducing the human trafficking legislation in Zambia. An ethnography of global connections, vernacularizations and appropriations“.