Temporalitäten und Politiken der Sorge in Brasiliens urbanen Peripherien
Der prekäre Zustand der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Brasilien ist nicht erst seit der COVID-19-Pandemie sichtbar geworden. Vor allem in ruralen wie urbanen Gegenden, die nach wie vor an die „Ränder des Staates“ (Das/Poole 2004) verwiesen sind, wurde das nun seit über 30 Jahren in der Verfassung festgeschriebene Recht auf Gesundheit kaum verwirklicht - und dies nicht nur in medizinischer Hinsicht. Insbesondere im urbanen Raum verknüpfen sich die Erfahrungen unzureichender oder gar fehlender medizinischer Versorgung mit anderen Unsicherheiten der (Über-)Lebenssicherung und Erfahrungen der Vernachlässigung (Biehl 2004). Soziale Bewegungen, Politiker:innen, sozialmedizinische Ärzteverbände, medizinische Fachkräfte und allen voran die Nutzer:innen des öffentlichen Gesundheitssystems sehen daher die öffentliche Gesundheit in einem weiter gefassten Sinne als Beispiel einer fehlenden Ethik der Sorge.
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit Vorstellungen und Politiken der Sorge am Beispiel der öffentlichen Gesundheit in urbanen Peripherien Rio de Janeiros. Dabei fokussiere ich die unterschiedlichen Zeithorizonte (Stodulka/Cubellis prep.), die sich über Erfahrungen und Erwartungen mit der Gesundheitsversorgung in die Erzählungen der Nutzer:innen sowie der Mitarbeiter:innen medizinischer Einrichtungen einschreiben. Diese Zeithorizonte zeigen zudem eine ganz leibliche Dimension, die sich in Praktiken und Interaktionen, in körperlichen Verfassungen und Empfindungen ausdrücken. So wird letztlich Temporalität als wesentlichen Bestandteil der Politiken der Sorge (Ticktin 2011) und damit der Politiken des Lebens (Fassin 2009 und Feldman 2012) diskutiert.